Ihr seid die Herbergsmütter. Im künstlerischen Bereich kennt man euch – da komme ich nun eher weniger her. Könnt ihr mir erklären, was ihr eigentlich genau macht?
Wibke: Die Herbergsmütter sind ein Kulturkollektiv dreier Freiberuflerinnen: Anke von Heyl, Ute Vogel und Wibke Ladwig. Seit 2011 beschäftigen wir uns gemeinsam mit der Frage, wie man mit unterschiedlichen Formaten Kunst und Kultur stärken kann – und das an der Schnittstelle Digital-Analog. Hierfür entwickeln wir Veranstaltungskonzepte sowie kreative Aktionen für den digitalen Raum, und wir setzen uns für die Vernetzung von Menschen, Ideen und Räumen ein.
Und wie kommt man denn auf diesen Namen? War das ein Nachmittag mit Kaffee, Kuchen und Brainstorming oder wie darf ich mir das vorstellen?
Anke: Nachmittags-Kaffee trifft es ganz gut. Wobei die Assoziation war bei uns eher Hagebuttentee, oder?
Ute: Als wir unsere erste Veranstaltung zusammen organisierten – das stARTcamp Köln – überlegten wir im Vorfeld, ob wir uns noch T-Shirts machen, an denen man uns als Organisatorinnen erkennt. “Staff”, “Team” oder “Orga” war uns zu flach. Das Ambiente der Seminarräume unseres Veranstaltungsortes, der etwas altmodischen Jugendherbergscharme verströmte, brachte uns auf die Herbergsmütter. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass das auch inhaltlich sehr gut zu uns passt. Denn uns ist tatsächlich immer sehr wichtig, dass sich Beteiligte und TeilnehmerInnen wohlfühlen – und dass es genug zu essen gibt. 😉 Außerdem habe wir viel Spaß daran mit der Assoziations- und Bilderwelt des Klischees ‘Jugendherberge’ zu spielen.
Herbergsmütter … euer Name verspricht irgendwie Heimat. Wir erkunden unsere Heimat Karlsruhe in diesem Jahr ja bekanntlich ganz besonders (Stichwort Heimattagen Baden-Württemberg) … Was ist Heimat für euch? Vielleicht jede in einem Satz:
Anke: Heimat ist für mich dort, wo ich mich andocken kann. An Menschen, an Erlebnisse, an Gefühle.
Ute: Das ist eine sehr schöne Assoziation! 🙂 Für mich ist Heimat ein flexibler Begriff und ist immer abhängig von meinem Standort und der Situation, in der ich mich befinde. Das können Menschen sein, Sprache oder Landschaften. Lustigerweise empfinde ich eine engere Verbundenheit zu Nordrhein-Westfalen / dem Rheinland als zu Köln.
Wibke: Home is where the heart is. In der Tat hat Heimat für mich weniger etwas Ortgebundenes, sondern ich fühle mich dort zuhause, wo ich sein darf. Es gibt Landschaften, die dieses Gefühl von Heimat in mir auslösen. Oft haben sie etwas Struppiges und (im Guten) Gebrochenes. Da fühle ich mich sofort wohl, denn ich fühle mich verwandt und kann ausatmen. Die Eifel ist eine solche Gegend, das Hinterland der Provence oder das Binnenland von Ostfriesland. Meine Sprache ist mir aber ebenfalls Heimat. Und ich freue mich immer darüber, die Heimat anderer kennenlernen zu dürfen.
Ich war neulich zu Gast in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Und da trällerte es aus allen Ecken #wirziehnfallera. Ich hatte das Hashtag schon auch auf Twitter gesehen, aber ich wusste nicht, was sich dahinter verbirgt. Dann sagte man mir: „Die Herbergsmütter, die musst du fragen.“ Ich frage euch also: Was hat es denn damit auf sich?
Anke: Wer jetzt sofort ein launiges Wanderlied im Kopf hat, den haben wir schon genau da, wo wir ihn hinhaben wollen. 😊 Wibke ist unsere Hashtag-Queen. Am besten erzählt sie, wie es zu dem Hashtag kam.
Wibke: Nun, ich grinse breit, wenn ich das höre. Denn genau dieser Effekt war unser heimlicher Wunsch. Ich habe in der Tat den Ehrgeiz, Hashtags für uns zu finden, die zum einen erzählerisch sind und somit Bilder (oder Melodien) im Kopf auslösen und die sich zum anderen gut und selbstverständlich in Tweets einfügen. Kryptische Hashtags lösen oftmals Verwirrung aus. Und sie bergen viel eher die Gefahr des Vertippens, weil man kein eindeutiges Wortbild vor Augen hat. Summt man im Kopf schon eine Melodie mit, vergisst man den Hashtag auch nicht so schnell. Ich mag es auch, altertümliche oder vergessen geglaubte Wörter oder Sätze per Hashtag wieder ins Leben zu schmuggeln.
Ich habe bei meinen Recherchen für das Interview den schönen Begriff „Digitale Promenadologie“ gelesen. Als Sprachwissenschaftlerin begeistert mich das natürlich, klingt ja erst mal beeindruckend und – für mich – sehr melodisch.
Anke: Pro-me-na-do-lo-gie, damit ist die Spaziergangswissenschaft gemeint. Eine Erfindung von einem gewissen Herrn Lucius Burckhardt. Der hat in den 1980ern vor allem für Architekten und Landschaftsplaner eine Systematik zur Wahrnehmung von Landschaft entwickelt. Die sind dann damals zu mehreren losgezogen und haben das dokumentiert, was sie sahen und erlebten. Eine sehr spannende Sache. Und je mehr man sich damit beschäftigt, desto spannender wird es. Hast du dir zum Beispiel schon einmal bewusst gemacht, dass Landschaft nur im Kopf des Betrachters entsteht?
Das hört sich spannend an. Wie war denn euer erstes Erlebnis? Ich habe das live auf Twitter verfolgt, es hat ja ziemlich geregnet.
Anke: Es war toll. Wobei wir nach gut drei Stunden richtig durchnässt waren. Aber so ein schöner Landregen hat auch etwas. Die Landschaft in der Eifel, durch die wir gewandert sind, hatte an jeder Ecke etwas für uns! Jedes Blatt, jeder Wurm wurde von uns begeistert begrüßt!
Wibke: Wir starteten im Literaturhaus Nettersheim. Dieser kleine Ort in der Eifel hat ein reiches Kulturleben. Und in dem schönen Literaturhaus, in dem man die Gemeindebücherei und eine Buchhandlung mit Schwerpunkt Literatur findet, lasen wir uns warm und laut Auszüge der Texte zu Landschaftsgemälden aus dem Ausstellungskatalog der Kunsthalle vor. So stimmten wir uns ein und zogen frohgemut in den Landregen und die grüne Hügellandschaft der Eifel.
Gab es ein besonderes Schlüsselerlebnis für euch bei der Wanderung? Was habt ihr für euch konkret daraus mitgenommen?
Anke: Für mich war es spannend, den Fokus auf die Landschaft immer wieder neu zu stellen. Mal schaute ich über die Weite, die es in der Eifel durchaus hat. Dann fielen mir wieder kleine Details am Wegesrand auf. Ich habe Landschaft noch nie so intensiv aufgenommen. Das war wirklich bereichernd.
Ute: Wir haben uns Rahmen gebastelt, die wir in die Landschaft gehalten haben, um einen bestimmten Ausschnitt hervorzuheben, so wie ein Fotograf einen bestimmten Ausschnitt wählt, wenn er fotografiert. So kann sich der Blick lenken und auf ein bestimmtes Detail fokussieren.
Wibke: Mir wurde wieder einmal klar, wie reich das Leben sein kann, wenn man sich ganz und gar auf den Moment an sich einlässt. Wir sind kaum vorangekommen, trotz Regen und trotz einer selbstauferlegten (und dann verworfenen) Zeitbeschränkung. Denn es galt vieles zu entdecken, zu erspüren, zu hören, zu sehen, zu riechen, zu schmecken. Eine Achtsamkeitskur für alle Sinne. Bindet man dies zurück auf Erlerntes und Erlebtes, begreift man sich deutlich als gestaltenden Menschen im Beuysschen Sinne. Denn kaum etwas von dem, was wir sehen, ist nicht vom Menschen beeinflusst. Dieser Erkenntnis wohnt die Bewusstwerdung der eigenen Gestaltungskraft inne. Da sind wir dann auch wieder bei dem Erfinder der Promenadologie, Lucius Burkhardt, der auf die Verwechslung von Natur und Landschaft aufmerksam machte.
Ich möchte mich euch jetzt anschließen. Also dem Projekt. Wie funktioniert das denn genau? Ich bräuchte da bitte mal eine Schritt für Schritt-Einweisung:
Anke: Sollst du haben: Bitte hier entlang!
Wie geht es jetzt also in den nächsten Wochen und Monaten weiter?
Anke: Wir werden mit Begeisterung verfolgen, wer alles bei #wirziehnfallera mitmacht und welche Erlebnisse wir dann in unsere Timeline gespült bekommen. Für uns war das ein Prototyp, den wir für die Ausstellung „Unter freiem Himmel“ gebaut haben. Jetzt kann man mit solch einer Idee natürlich auch zu anderen Anlässen wandern. Mal schauen, was sich da noch ergibt. Ich kann mir auch vorstellen, so etwas mal in einer Stadt zu machen.
Wem würdet ihr empfehlen, auch einfach mal zu zieh’n, fallera? 😉
Anke: Allen, die ein bisschen zu lang am Schreibtisch sitzen. 😊 Eigentlich war es gerade bei Regen richtig toll draußen. Aber natürlich ist es auch fantastisch, wenn die Sonne scheint. Einfach mal raus und ein paar Schritte gehen. Bis zum nächsten Grün ist es meist nicht weit!
Ute: Unsere Handreichung gibt vielleicht ein paar Impulse, auch bekannte Umgebung mal anders wahrzunehmen, sich einer Landschaft anders zu nähern. Sich beispielsweise auf die Geräusche zu konzentrieren, oder die visuellen Eindrücke in einem Haiku auszudrücken. Der Perspektivwechsel ist ja unser Lieblingssport. 🙂
Wibke: Mich würde es sehr reizen, mal mit jemanden auszuziehen, der ein landwirtschaftliches und damit sehr zweckgebundenes Interesse an Landschaft hat. Ob sich jemand auf unsere künstlerischen Impulse einlassen könnte, der in Wiesen und Feldern vor allem Arbeit sieht? Das wäre ein schönes Experiment.
Landschaft auf die Hand – geht das wirklich so einfach? Und denkt ihr, dass das überhaupt gewünscht ist? Ich beobachte gerade eher einen Trend in die entgegengesetzte Richtung. Digital Detox, bewusste Auszeiten von dem ganzen Online-Wahnsinn … Oder liegt gerade da vielleicht ein ganz neuer Weg?
Anke: Jeder, wie er mag. Wir haben nur festgestellt, dass man Landschaft ganz besonders wahrnimmt, wenn man kreativ werden kann. Motive suchen, Fotos machen, Worte finden. Vielleicht ist das auch etwas, das Wandermuffel motivieren kann. Dass man dann ein wenig Naturerlebnis in die sozialen Netzwerke bringt, ist doch toll.
Ute: Ich mag einfach gerne teilen und teilhaben. Ist doch schön, wenn man von anderen inspiriert wird, wenn ich dadurch die Landschaft in, sagen wir Baden-Württemberg, kennenlerne und am Ende auf die Idee komme, da mal hinzufahren. 😀
Wibke: Diesen Trends misstraue ich grundsätzlich. Da scheint so mancher doch einfach dann doch wieder nur ein Buch schreiben zu wollen – und wo schreibt man dann darüber und wo wird es dann beworben? Genau. Digital Detox wirkt auf mich oft wie eine dekadente Koketterie. Da empfehle ich doch eher, an der eigenen Medien- und Informationskompetenz zu arbeiten. Und aktiv zu gestalten, wie man Medien nutzen möchte. Mich treibt an, in den digitalen Raum Kunst, Kultur und vielleicht auch Leichtfüßigkeit zu säen. Drei Dinge, die helfen können, mit sich, Wandel und dem Leben an sich einen Umgang zu finden. Konkret von diesem Projekt erhoffe ich mir einen offeneren Blick auf die direkte Umgebung. Mancher sieht ja nur im Urlaub wirklich hin. Dabei lässt sich Schönheit auch im Alltag entdecken. Und diese Entdeckung trägt vielleicht zur Wertschätzung, Bewahrung oder auch Herstellung von Schönheit bei.
Heimat und Digitales – wie ist denn das Verhältnis digitale Heimaten vs. reale Heimaten? Oder haben die überhaupt schon eines?
Anke: Oh ja, ich bin ja ein großer Fan von der Verbindung von analog und digital. Und wer sich digital schon kennt, der kann dann analog direkt eine engere Verbindung eingehen. Communities können auch Heimat sein. Man mag die gleichen Sachen, hat gemeinsame Rituale und spricht dieselbe Sprache. Auch im übertragenen Sinne.
Ute: Absolut. Und ich kann meine digitale Heimat immer bei mir haben.
Wibke: Ich beschäftige mich seit einer Weile verstärkt mit der Entwicklung des digitalen Raums, unter anderem mithilfe von Digitalisierung und Kultur. Dabei stellte ich fest, dass wir eigentlich nichts anderes im digitalen Raum machen wie Menschen von jeher: Wir bauen digitale Dörfer. Mein digitales Dorf trage ich immer mit mir herum, was mir ein Gefühl von Heimat vermittelt. Für diese Heimat fühle ich mich verantwortlich, weshalb ich sie meinen Vorstellungen entsprechend zu gestalten versuche.
Ihr bringt jetzt Natur, Kunst und Digitales zusammen. Die Digitalisierung ist für die Kunst eine ganz schöne Herausforderung, oder?
Anke: Ja, besonders bei uns hier in Deutschland. Da gibt es viele Bedenken, dass man der Kunst nicht gerecht werden kann, wenn man sie ins Digitale erweitert. Das ist aber Quatsch. Denn theoretisch hat nun jeder die Chance, sich zur Kunst zu äußern. Ich bin ein großer Fan davon, das auch zu unterstützen, indem man Umgebungen schafft, in denen das auch möglich ist.
Wibke: Schwierig sind die vielen ungeklärten Fragen in rechtlicher Hinsicht. Uns ist es zwar auch schon gelungen, eine Ausstellung im Rahmen eines Tweetups auch ohne Fotografiererlaubnis so im Digitalen zu vermitteln, dass auch die Menschen an den Empfangsgeräten mit Gewinn teilhaben konnten. Aber es wäre doch sehr hilfreich, wenn wir nicht mehr mit einem Urheberrecht aus einer Zeit operieren müssten, in der es das Internet noch nicht gab.
Natur, Kunst, Digitales: Diese drei Substantive beschreiben Karlsruhe irgendwie sehr gut, oder was meint ihr? Und um die Vereinigung dieser drei Dinge geht es doch auch in eurem Projekt … Was hat #wirziehnfallera mit Karlsruhe zu tun? Wieso passt es eurer Meinung nach gerade hier so gut hin?
Anke: Na, wohin wenn nicht in eine Stadt, die ein Zentrum für Kunst und Medientechnologie hat? Und ein Stadtbild, das nach einer bestimmten Landschaftsvorstellung vom Schloss aus ersonnen wurde. Aber auch die Kunsthalle Karlsruhe und ihr Umfeld – der Botanische Garten und die Orangerie – Natur wird bei euch schon sehr gefeiert!
Die Herbergsmütter …
… sind ein Kulturkollektiv, das für eine positive Kommunikationskultur eintritt. Sie wollen die Menschen dazu bringen, eigene Ideen für das Internet zu entwickeln und sich miteinander zu vernetzen. Gemeinsam kümmern sie sich darum, dass gute Geschichten entstehen und Kultur für Menschen im Internet erlebbar und greifbar wird. www.herbergsmuetter.de
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